Goethe erklärt das Semantic Web

20. Mai 2012 um 15:49 4 Kommentare

Seit Google vor einigen Tagen den „Knowledge Graph“ vorgestellt hat, rumort es in der Semantic Web Community. Klaut Google doch einfach Ideen und Techniken die seit Jahren unter der Bezeichnung „Linked Data“ und „Semantic Web“ entwickelt wurden, und verkauft das ganze unter anderem Namen neu! Ich finde sowohl die Aufregung als auch die gedankenlose Verwendung von Worten wie „Knowledge“ und „Semantic“ auf beiden Seiten albern.

Hirngespinste von denkenden Maschinen, die „Fakten“ präsentieren, als seien es objektive Urteile ohne soziale Herkunft und Kontext, sind nun eben Mainstream geworden. Dabei sind und bleiben es auch mit künstlicher Intelligenz immer Menschen, die darüber bestimmen, was Computer verknüpfen und präsentieren. Wie Frank Rieger in der FAZ gerade schrieb:

Es sind „unsere Maschinen“, nicht „die Maschinen“. Sie haben […] kein Bewusstsein, keinen Willen, keine Absichten. Sie werden konstruiert, gebaut und eingesetzt von Menschen, die damit Absichten und Ziele verfolgen – dem Zeitgeist folgend, meist die Maximierung von Profit und Machtpositionen.

In abgeschwächter Form tritt der Irrglaube von wissenden Computern in der Fokussierung auf „Information“ auf, während in den meisten Fällen stattdessen Daten verarbeitet werden. Statt eines „Knowledge Graph“ hätte ich deshalb lieber einen „Document Graph“, in dem sich Herkunft und Veränderungen von Aussagen zurückverfolgen lassen. Ted Nelson, der Erfinder des Hypertext hat dafür die Bezeichnung „Docuverse“ geschaffen. Wie er in seiner Korrektur von Tim Berners-Lee schreibt: „not ‘all the world’s information’, but all the world’s documents.“ Diese Transparenz liegt jedoch nicht im Interesse von Google; der Semantic-Web-Community ist sie die Behandlung von Aussagen über Aussagen schlicht zu aufwendig.

Laut lachen musste ich deshalb, als Google ein weiteres Blogposting zur Publikation von gewichteten Wortlisten mit einem Zitat aus Goethes Faust beginnen lässt:

Yet in each word some concept there must be…

Im „Docuverse“ wäre dieses Zitat durch Transklusion so eingebettet, dass sich sich der Weg zum Original zurückverfolgen ließe. Hier der Kontext des Zitat von Wikisource:

Mephistopheles: […] Im Ganzen – haltet euch an Worte! Dann geht ihr durch die sichre Pforte Zum Tempel der Gewißheit ein.

Schüler: Doch ein Begriff muß bey dem Worte seyn.

Mephistopheles: Schon gut! Nur muß man sich nicht allzu ängstlich quälen; Denn eben wo Begriffe fehlen, Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. Mit Worten läßt sich trefflich streiten, Mit Worten ein System bereiten, An Worte läßt sich trefflich glauben, Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben.

Die Antwort von Google (und nicht nur Google) auf den zitierten Einwand des Schülers gleicht nämlich bei näherer Betrachtung der Antwort des Teufels, wobei das „System“ das uns hier „bereitet“ wird ein algorithmisches ist, das nicht auf Begriffen sondern auf Wortlisten und anderen statistischen Verfahren beruht.

In der Zeitschrift für kritische Theorie führt Marcus Hawel zu eben diesem Zitat Goethes (bzw. Googles) aus, dass Begriffe unkritisch bleiben, solange sie nur positivistisch, ohne Berücksichtigung des „Seinsollen des Dings“, das bestehende „verdoppeln“ (vgl. Adorno). Wenn Google, dem Semantic Web oder irgend einem anderen Computersystem jedoch normative Macht zugebilligt wird, hört der Spaß auf (und das nicht nur aufgrund der Paradoxien deontischer Logik). Mir scheint, es mangelt in der semantischen Knowledge-Welt an Sprachkritik, Semiotik und kritischer Theorie.